Erstes komplettes Erbgut einer Pflanze vorgestellt

Nahezu 26000 Gene auf fünf Chromosomen: Durch Arabidopsis thaliana den Menschen verstehen lernen - Industrielle Anwendungen

Mit der in Brüssel, London und Washington gestern vorgelegten vollständigen Sequenzierung des Genoms der Arabidopsis thaliana schlagen EU-Forscher gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den USA und Japan eine neue Seite im Buch des Lebens auf. "Die Analyse der 115 Millionen Basenpaare der Arabidopsis-Pflanze, mit fast 26000 Genen auf fünf Chromosomen darf als Meilenstein in der Pflanzenforschung gelten", betonte EU-Generaldirektor Achilleas Mitsos in Brüssel. Dieser "wissenschaftliche Durchbruch" eröffne künftige industrielle Anwendungen in Medizin, Landwirtschaft und Umwelt.
Der Einblick in die Genomstruktur, der als Unkraut verunglimpften Ackerschmalwand zeigt verblüffende Ähnlichkeiten mit Tieren und Menschen. "Im Vergleich mit dem bereits früher entschlüsselten Hefegenom haben wir einen großen Schritt vorwärts gemacht", erklärt Professor Werner Mewes vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Das Arabidopsis-Genom ist zehnmal größer als das Hefegenom, enthält fünfmal mehr Gene und ist komplexer aufgebaut. "Wir kennen mit der Sequenzierung im Prinzip sämtliche genetischen Elemente, wissen aber im einzelnen noch nicht was sie tun", so Mewes vom Forschungszenrum für Umwelt und Gesundheit (GSF). Nun sind unter anderem die Bioinformatiker gefordert, im Computer herauszufinden, welche Sequenzen welchen Eigenschaften der Pflanze zuzuschreiben sind. Daneben sollen in den kommenden Jahren auch die zeitlichen Abläufe verstanden werden. Also etwa Zellteilung oder Zelldifferenzierung. "All diese komplexen biologischen Prozesse verstehen wir heute nicht einmal im Ansatz", umschreibt Mewes die Komplexität der nun folgenden wissenschaftlichen Arbeit.
Dass die weltumspannende Forschergemeinde sich ausgerechtet auf Arabidopsis als Modellpflanze konzentriert, hat gute Gründe: Das einjährige Kraut wächst von der Arktis bis zum Äquator und zeugt von einer außergewöhnlichen Anpassungsfähigkeit. Und Arabidopsis besitzt für Pflanzen ein sehr dicht gepacktes Genom. "Die Qualität der Sequenzierung ist sehr hoch einzuschätzen", erläuterte Professor Francis Quetier von Genoscope, dem nationalen französischen Sequenzierungs-Zentrum, vor der Presse und damit sei es ein "großer Tag für aller Biologen in der Welt." "Die Auswirkungen der Sequenzierung des ersten pflanzlichen Genoms reichen weit über die Grundlagenforschung hinaus", verdeutlicht Dr. Marc Zabeau vom belgischen Biotechnologie-Institut in Gent. Das Arabidopsis-Genom stimme mit einer Reihe anderer Pflanzen überein und helfe, die Prozesse, die in allen Pflanzen gleich ablaufen, wie zum Beispiel ihren komplexen Stoffwechsel, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Schädlingen und Krankheiten verstehen zu lernen.
In 15 Laboratorien in acht EU-Staaten unterstützt die Europäische Union seit 1991 Sequenzierungsprojekte in der Pflanzengenom-Forschung mit rund
26 Millionen Euro. Viel zu wenig meinen die europäischen Forscher. GSF-Forscher Mewes fordert daher für die künftige Pflanzengenom-Forschung in der Forschungförderung eine Gleichstellung mit strategischen Projekten wie der Raumfahrt und der Hochenergiephysik.
Das erste Pflanzengenom liegt nun vollständig entschlüsselt vor. Heute veröffentlicht das britische Fachmagazin "Nature" die Daten, die von der internationalen Arabidopsis Genom Initiative (AGI) innerhalb der letzten vier Jahre erforscht und zusammengestellt wurden. Das vermeintliche Unkraut Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) wird damit zum Modell für höhere Blütenpflanzen, die sich nun alle daran messen müssen. Ihre Anspruchslosigkeit, der kleine Wuchs und die sehrzahlreiche Nachkommenschaft von Arabidopsis zahlen sich seit Jahrzehnten aus für die Forschung im Labor. Mit den DNS-Sequenzen besitzen die Wissenschaftler nun ein genetisches Grundgerüst, mit dem sich weitaus komplexere Pflanzengenome erklären lassen.
So zum Beispiel Raps, der ein etwa zehnfach größeres Genom besitzt und wie Arabidopsis der Familie der Kreuzblütler angehört. Vor allem Vergleiche mit nahen Verwandten sind für die zukünftige Forschung interessant. "Etwa 90 Prozent der Gene sind bei verwandten Pflanzen konserviert", stellt Doktor Renate Schmidt vom Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung (MPIZ) in Köln fest. Und das, obwohl sich die Evolutionswege von Kohl und Arabidopsis vor etwa 16 bis 20 Millionen Jahre trennten. Das der Ackerschmalwand auch augenscheinlich sehr ähnliche Hirtentäschelkraut schlug beispielsweise erst vor acht Millionen Jahren eigene Wege ein.
Das gläserne Genom der Arabidospis kann jetzt die weitere Züchtungsforschung unterstützen. "Da man von dieser Pflanze bereits gute Kenntnisse über Stoffwechselvorgänge besitzt, lassen sich nun die entsprechende Gene herausfinden", erklärt die Molekularbiologin Schmidt. Dazu tragen auch Mutationszüchtungen bei, die in der Kölner MPIZ-Arbeitsgruppe von Professor Heinz Saedler untersucht werden. Erforscht wird, wie sich Veränderungen an den Genen auf Merkmale der Pflanze auswirken. Die Ergebnisse können sich anschließend auf andere Pflanzen übertragen lassen.
Überrascht war Schmidt, deren Arbeitsgruppe am internationalen AGI-Projekt beteiligt war, vor allem darüber, wie schnell in vervielfältigten Pflanzengenen strukturelle Änderungen entstehen. Aus weiteren Analysen der so genannten Polyploidie erhofft sich Schmidt nun Hinweise auf die mögliche Beeinflussung von Genfunktionen sowie über die Pflanzenevolution.

SK

Artikel vom 14.Dezember 2000 ( Welt online )

 

Arabidopsis thaliana